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Gerechtigkeit


Die soziale Wirklichkeit und die Sklaverei

Der differenzierte Begriff der Gerechtigkeit, den Aristoteles im V. Buch seiner Nikomachischen Ethik entwickelt, bezieht sich lediglich auf die freien Bürger der Polis, auch wenn Frauen und Kinder wie auch die Fremden, die Metöken, ebenfalls durch die Gesetze, an denen sie  allerdings nicht mitwirken durften, geschützt sind. Aber Sklaven fallen völlig aus dieser Erörterung heraus – sie sind rechtlos, unterliegen also der Willkür ihres Herren, der sie töten oder wie eine Ware verkaufen kann.
Um das zu verstehen, sind einige Bemerkungen zur Sklaverei in der Antike, speziell der attischen Polis angebracht.
Ein Sklave ist ein „beseelter Besitz“ (Aristoteles: Pol., S. 1253 b 32), er ist „Sklave von Natur“ (S. 1254 a 18), wenn er in der Sklaverei geboren wurde oder in einem gerechten Krieg als Kriegsgefangener zum Sklaven wurde. (Pol., S. 16 f.) Ein Sklave galt in der allgemeinen Meinung als minderwertig.
„Die meisten Griechen und Römer (…) gingen wie Herodot weiter ohne jede Bedenken davon aus, daß – von den unvermeidlichen Ausnahmen abgesehen – Sklaven als Klasse minderwertige Wesen waren, und zwar in ihrer Psyche von Natur aus minderwertige Wesen. Das zum Beispiel ist die Voraussetzung, die dem bei den Römern der republikanischen Zeit zu findenden Gemeinplatz zugrunde liegt, daß Juden, Syrer und Meder, also alle Asiaten, ‚zur Sklaverei geboren sind‘.“ (Finlay: Sklaverei, S. 143 f.) Sieht man einmal von exotischen Formen der Sklaverei ab, so war der Sklave rechtlos und der Zwangsarbeit unterworfen. Im Gegensatz zum Lohnarbeiter, der rechtlich frei ist und nur zeitweise seine Arbeitskraft verkaufen muss, um leben zu können, ist der Sklave keine Person, sondern selbst eine Ware, mit der man handeln kann. Der Wille des Sklaven ist den Zwecken seines Herrn unterworfen. Hätte er keine Vernunft bzw. Verstand und deshalb auch keinen Willen, sondern bestenfalls Willkür, dann wäre er vom Tier nicht zu unterscheiden, könnte also auch nicht arbeiten, d. h. einer selbstständigen zweckgerichteten Tätigkeit nachgehen. Wenn Sklaven Feldarbeit verrichten oder ein Handwerk ausführen, gar als Stadtpolizisten fungieren, dann müssen sie ständig ihren Willen betätigen, z. B. um zwischen Unkräutern und Nutzpflanzen beim Hacken zu unterscheiden oder um ein Richtmaß an eine Mauer anzulegen. Aristoteles bezeichnet den Sklaven denn auch zurecht als „beseelten Besitz“, die Römer sprachen vom instrumentum vocale.
„Diese drei Komponenten der Sklaverei – die Stellung des Sklaven als Eigentum, seine völlige Rechtlosigkeit und sein Mangel an familiären Bindungen – verschafften dem Sklavenbesitzer a priori entscheidende Vorteile im Vergleich zu anderen Formen unfreiwilliger Arbeit: Er hatte größere Gewalt und war beweglicher beim Einsatz seiner Arbeitskräfte und hatte wesentlich größere Handlungsfreiheit, sich unerwünschter Arbeitskräfte zu entledigen.“ (A. a. O., S. 91)
Damit die Sklaverei sich zu einer Produktionsweise entwickeln konnte, mussten drei Bedingungen erfüllt sein. Andere Formen der Zwangsarbeit mussten zurückgedrängt sein, wie z. B. die Schuldknechtschaft nach den Solonschen Reformen. Die freie, aber arme Bevölkerung sah es als Schande an, sich als Lohnarbeiter zu verdingen, weil das Ideal der freien Bürger die Existenz auf einem eigenen Stück Land war – oder doch zumindest ein eigener Handwerksbetrieb, in dem selbst Sklaven arbeiteten. „Jedermann wußte, daß es unmöglich war, die Bauern oder Handwerker, die doch Bürger waren, zu Lohnarbeitern zu machen – dieselben Bürger, die auch für die Armee gebraucht wurden.“ (A. a. O., S. 108) Da viele landwirtschaftliche Kleinbetriebe nur für den Eigenbedarf produzierten, also ökonomisch autark waren, ist Sklaverei hier nebensächlich. Aber große Teile des Landes gehörten reichen Familien, dem Adel, der selbst nicht mehr arbeitete.
„Sklaven beherrschten und monopolisierten buchstäblich das Bild in den großen Produktionsbetrieben, sowohl im ländlichen als auch im städtischen Bereich. Daraus folgt, daß Sklaven den größten Teil des direkten Einkommens aus Besitz (…) für die wirtschaftlich, sozial und politisch herrschende Schicht erwirtschafteten.“ (A. a. O., S. 97 f.)
Produktion durch Sklaven war also durchaus eine Produktionsweise, auch wenn daneben noch andere Produktionsweisen weiter bestanden wie z. B. die Subsistenzwirtschaft. Um ein paar Zahlen zu nennen:
Die Stadt Athen (mit dem Umland) hatte im 5. Jahrhundert nach vorsichtigen Schätzungen ca. 200 000 Einwohner, von denen 40 000 männliche Vollbürger waren. Von den 200 000 Einwohnern waren ca. 60 000 Sklaven, also 30 – 35 %. (Die Zahlen stammen aus Finley: Sklaverei, S. 95; Finley: Griechen, S. 51 ff.)
Platon hatte als einzelner, wie aus seinem Testament hervorging, fünf Sklaven, Aristoteles hatte mit seiner Frau und seinen zwei Kindern 14 Sklaven. Irgendwo habe ich gelesen, dass fünf Sklaven notwendig waren, um einen freien Menschen so zu versorgen, dass er nicht mehr zu arbeiten brauchte, sich also um Politik, Kunst oder Philosophie kümmern konnte – oder als Rentner einfach nur müßig in den Tag hinein lebte.
Bei aller Vorsicht, wenn man Vergleiche zwischen der Neuzeit und der Antike anstellt, so lässt sich doch Charakteristisches erkennen. Die Ausbeutungsrate ergibt sich nach Marx (Kapital I, S. 226 ff.) aus der
Mehrwertrate:
                                    Mehrwert
Rate des Mehrwerts = ------------------------ , ausgedrückt in Arbeit:
                                   Lohn des Arbeiters
    Mehrarbeit
--------------------------------------------------- = Ausbeutungsrate in %
Notwendige Arbeit (zur Lebenserhaltung)

Wenn fünf Sklaven nötig sind, um einen Sklavenbesitzer zu versorgen und ein Freier von 20 Stunden Mehrarbeit in einem bestimmten Zeitraum leben konnte, dann ergibt sich eine

                                               ein Freier               20 St. Mehrarbeit
Ausbeutungsrate der Sklaven: ----------------     = ----------------------
                                              fünf Sklaven         80 St. notw. Arbeit
                                            arbeiten 100 St.

Die Ausbeutungsrate ausgedrückt in Prozent beträgt 25 %.

Die Modellrechnungen von Marx im 19. Jahrhundert gehen von einer Ausbeutungsrate von 100 % aus, also 50 notwendige Arbeit und 50 Mehrarbeit. Das war in vielen Betrieben seiner Zeit üblich. Heute wird aber die Ausbeutungsrate der Lohnarbeiter viel höher liegen, weil  die Arbeitsproduktivität stark angewachsen ist und dadurch die Lohnkosten im Verhältnis zum Mehrwert viel niedriger liegen.
Ist der Mensch ein vernunftbegabtes Lebewesen, und das gilt auch für den Sklaven, denn sonst könnte er nicht einer zweckgerichteten Tätigkeit nachgehen, dann tut sich in Aristoteles‘ Philosophie ein eklatanter Widerspruch auf. Er behauptet, ein Sklave sei Sklave von Natur und zugleich sei jeder Mensch vernunftbegabt, also mit eigenem Willen, Vernunft (nous) und eigenen Zwecken begabt. Indem Aristoteles den Sklaven als „beseeltes Besitzstück“ (Pol, S. 7/1253 b) bestimmt, gesteht er zu, dass er wie jeder andere Mensch eine Seele hat; zugleich spricht er ihm wesentliche Leistungen der Seele ab, wenn er ihn auf die Kräfte des Leibes reduziert. „Denn was von Natur dank seines Verstandes vorzusehen vermag, ist ein von Natur Herrschendes und von Natur Gebietendes, was dagegen mit Kräften seines Leibes das so Vorgesehene auszuführen imstande ist, das ist ein Beherrschtes und von Natur Sklavisches“. (Pol., S. 2/1252 a) Aristoteles zitiert zustimmend den Dichter Hesiod: „‘Billig ist, daß über die Barbaren der Hellene herrscht‘, um damit auszudrücken, daß ein Barbar von Natur und ein Sklave dasselbe ist.“ (Pol., S. 3/1252 b) Unter „Natur“ ist hier das Wesen dessen gemeint, das diese Bestimmung hat. Ein Sklave ist danach von Natur vernünftig und zugleich unvernünftig. Die Unterscheidung von Aristoteles, dass der Herr die Vernunft hat und der Sklave die Vernunft nur empfängt (Pol., S. 10), ist eine situativ faktische, aber keine anthropologische, die es rechtfertigen würde, den Sklaven als von Natur zu bestimmen; denn um die Vernunft zu empfangen, muss er sie ja verstehen, also ebenfalls haben.
Die Ausbeutung der Sklaven brachte ihren Besitzern, da wo von Sklavenproduktion gesprochen werden kann, ein beträchtliches Vermögen ein. Das war vor allem die massenhafte Anwendung von Sklaven auf größeren landwirtschaftlichen Gütern, in größeren Handwerksbetrieben und in den Silberbergwerken Athens.
(Nur nebenbei ein makaberer Vergleich: Die Überlebensdauer eines Sklaven in den Silberbergwerken Athens betrug ca. fünf Jahre, dann war der Sklave abgearbeitet oder tot; die Überlebensdauer im Arbeitslager Auschwitz Birkenau betrug sechs Monate, dann war der KZ-Häftling vernichtet durch Arbeit – soweit zum Fortschritt der Humanität.)
Wenn also eine Gesellschaft existiert, zu der auch die massenhafte Produktion durch Sklaverei gehört, dann hat dies mit dem differenzierten Begriff der Gerechtigkeit von Aristoteles überhaupt nichts zu tun. Die Grundvoraussetzung der Gerechtigkeit unter den Bürgern bzw. auch den Fremden, vor dem Gesetz als Gleiche zu gelten, hat mit den Sklaven nichts zu tun, denn sie sind rechtlos. Es gibt keine distributive Gerechtigkeit für die Sklaven, denn was sie als Lebensmittel bekommen, hängt von der Willkür ihrer Herren ab. (Dass Sklaven, weil Not am Mann war, in Kriegszeiten manchmal auch als Soldaten eingesetzt wurden und, wenn sie überlebten, ihre Freiheit bekamen, sind Ausnahmen, die nur wenige betrafen.) Auch der strafenden Gerechtigkeit unterlagen die Sklaven nicht, denn sie konnten bei bloßem Verdacht getötet werden. Als Zeuge vor Gericht waren sie nur zugelassen, wenn sie der Folter unterworfen wurden – obwohl dieses Instrument zur Wahrheitsfindung bereits als unbrauchbar angesehen wurde. Auch der Korrektur des Rechts durch Billigkeit unterliegen sie als Rechtlose nicht. Und schließlich waren Sklaven nicht geschäftsfähig, sie konnten also keine Verträge abschließen, nichts kaufen oder verkaufen – es sei denn im Namen ihres Herrn. Selbst eine Familie konnten sie nicht gründen, und wenn es ihnen doch gestattet wurde, dann hatte der Herr das Recht, sie wieder auseinander zu reißen, indem er z. B. Teile der Familie verkaufte. Auch die Kinder aus einer Sklavenehe – sie war keine Rechtsform – waren Sklaven ihres Herrn. Das hatte unter anderem zur Folge, dass sich nur ein Teil der Sklaven in der Sklaverei reproduzierte, der Nachschub für die Masse der Sklaven kam aus den vielen Kriegen, die Athen und später das Römische Reich führte. So konnte es passieren, dass eine ganze Stadt, die erobert wurde, in die Sklaverei überführt wurde und die Sklavenmärkte mit Menschen überschwemmte. Außerdem galten die Sklaven als Außenseiter, sie waren untereinander isoliert, bedingt auch durch ihre verschiedenen Funktionen von Haussklaven über Landarbeiter und Bergwerkssklaven bis zu qualifizierten Handwerkern und Stadtpolizisten. Es ist jedenfalls in Athen von keinem Zusammenschluss von Sklaven, die einen Aufstand wagten, bekannt – im Gegensatz zum Spartakusaufstand im Römischen Reich.
Aristoteles kannte die Argumente gegen die Sklaverei, es gehörte sozusagen zu den Prinzipien seiner Philosophie, immer auch die Gegenargumente mit aufzunehmen: „die anderen glauben, die Despotie widerstreite dem Naturrecht. Nur kraft positiven Gesetzes wäre ihnen zufolge der eine ein Sklave und der andere ein Freier, dagegen von Natur unterschieden sie sich durchaus nicht, und darum sei die Gewalt des Herrn über den Sklaven auch nicht rechtmäßig, sondern sie beruhe lediglich auf Zwang.“ (Pol., S. 7/1253 b)
Dem kann Aristoteles aus pragmatischen Gründen nicht zustimmen, im Gegenteil. Auf die Frage, warum ein Staatsmann die Kunst der Kriegsführung kennen müsse, sagt er unter anderem: „um ein Herrenregiment über die zu gewinnen, die es verdienen, Sklaven zu sein“ (Pol., S. 1333 b – 1334 a)
Dem metaphysischen Einwand gegen die Bestimmung „Sklave von Natur“ kann Aristoteles aber kaum widersprechen, da er selbst den Menschen (d. h. alle Menschen) als vernunftbegabt definiert hat.

Exkurs zur Vernunftbegabung der Sklaven


Dass der Sklave vernunftbegabt ist, bewies schon Platon in seinem Dialog „Menon“ (S. 22 ff.). Sokrates lässt einen jungen Knaben, der als Sklave aufgewachsen ist, also nach Aristoteles „Sklave von Natur“ ist, kommen, um seine „Maieutik“ an ihm zu erproben, d. h. seine Fragetechnik, die angeblich Lernen als Wiedererinnerung beweise. Der Sklave soll ein gleichseitiges, rechtwinkliges Viereck, also die Gestalt eines Quadrats, flächenmäßig verdoppeln, ohne diese Gestalt als Quadrat zu verändern. Das funktioniert aber nicht dadurch, dass der Sklave die Seitenlängen verdoppelt. Sokrates Fragen lenken den Sklaven auf die beiden Diagonalen. Dem Sklaven geht ein Licht auf, als er erkennt, dass er die durch die Diagonalen eingeschlossenen Dreiecke verdoppeln muss, um das Quadrat zu verdoppeln. Damit hat der platonische Sokrates nicht Lernen als Anamnesis (Wiedererinnerung) bewiesen, denn Sokrates kannte bereits das Resultat, auf das er den Sklaven durch Fragen hinführte, sondern dass auch ein ungebildeter Sklave ein rationale Seele hat, ein Vernunftvermögen, das ihn anthropologisch nicht von den freien Bürgern unterscheidet. (Es ist anzunehmen, Aristoteles kannte diesen Dialog seines Lehrers.)

(Ende des Exkurses)

Aristoteles hat denn auch keine metaphysischen Argumente für die Sklaverei, sondern nur pragmatische. Sklaven sind erforderlich, um die Arbeit zu verrichten, die den Herrn Muße verschafft, sich höheren Dingen zu widmen, „denn ohne das Notwendige kann man weder leben, noch befriedigend leben“ (Pol., S. 7). Und weiter schreibt er in seiner „Metaphysik“:
„Bei dem Fortschritt in der Erfindung von Künsten, teils für die notwendigen Bedürfnisse, teils für die (angenehmere) Lebensführung, halten wir die letzteren immer für weiser als die ersteren, weil ihr Wissen nicht auf den Nutzen gerichtet ist. Als daher schon alles Derartige geordnet war, da wurden die Wissenschaften gefunden, die sich weder auf die notwendigen Bedürfnisse, noch auf das Angenehme des Lebens beziehen, und zwar zuerst in den Gegenden wo man Muße hatte. Deshalb bildeten sich in Ägypten zuerst die mathematischen Künste (Wissenschaften) aus, weil dort dem Stande der Priester Muße gelassen war.“ (Aristoteles: Metaphysik I, S. 9, 981 b)
Muße für wenige aber setzt in der Antike Zwangsarbeit vieler voraus. Auch die höchste Glückseligkeit des Menschen, die theoretische Lebensweise (NE, S. 248), ist nur möglich, wenn andere für einen die Befriedigung der notwendigen Bedürfnisse und die angenehme Lebensführung durch ihre Arbeit, das heißt durch Zwangsarbeit, ermöglichen. Die übliche Zwangsarbeit in der Antike aber war die Sklaverei. Entsprechend rechtfertigt Aristoteles die Sklaverei pragmatisch als notwendig. Auch die politische Tätigkeit, so verdienstvoll sie ist, stellt noch nicht das höchste Ziel, die Glückseligkeit, dar. „Wir opfern unsere Muße, um Muße zu haben, und wir führen Krieg, um in Frieden zu leben.“ (NE, S. 249)
In diesen Zitaten steckt die Einsicht, Kultur und Fortschritt, auch die Philosophie und die Wissenschaften sind nicht ohne Herrschaft über diejenigen möglich, die ein Mehrprodukt erzeugen.
Die Größe des Aristoteles zeigt sich daran, dass er die Aporien seiner Rechtfertigung der Sklaverei wohl gespürt hat, denn er denkt sich einen – damals – utopischen Zustand aus, in dem Sklaverei nicht mehr notwendig ist.
„Denn freilich, wenn jedes Werkzeug auf erhaltene Weisung, oder gar die Befehle im voraus erratend, seine Verrichtung wahrnehmen könnte (…) wenn so auch das Weberschiff von selber webte und der Zitherschlägel von selber spielte, dann brauchten allerdings die Meister keine Gesellen und die Herren keine Knechte.“ (Pol., S. 7/1253 b)
Karl Winfried Schmidt kommentiert diese und andere Aussagen von Aristoteles über Sklaverei:
„Indem jedoch Aristoteles auch den Sklaven Dynamis Vernunft und Menschsein zuspricht, deren Energeia aber abhängig macht von der Befreiung von körperlicher Arbeit, antizipiert er negativ die Idee der realen Einheit der Gattung in einer Gesellschaft, die dank der Entfesselung der Produktivkräfte mit dem physischen Mangel auch Herrschaft und die Notwendigkeit von Arbeit abgeschafft hätte.“ (Schmidt: Logik und Polis, S. 21)
Die Aporien in der Rechtfertigung der Sklaverei bei Aristoteles verweisen auf einen „Knoten in der Sache“, wie er selbst wusste. Sein Begriff der Gerechtigkeit ist mit der Sklaverei nicht vereinbar. Da Aristoteles auch die Eigentumsdifferenzierung nicht kritisiert, rechtfertigt er auch, dass die Polis ständig durch innere Widersprüche gefährdet bleibt, die sich schlimmstenfalls als Stasis, d. h. versteckten oder offenen Bürgerkrieg, äußern konnten. Die Folgen einer antagonistischen Gesellschaft für die allgemein gelten sollende Moral wie die Gerechtigkeit hat Aristoteles wohl registriert. Es ist nicht die Überzeugung, die zur Gerechtigkeit unter der Menge führt, sondern der Zwang.
„Denn in der Mehrzahl fügen sich die Menschen mehr dem Zwang als dem Wort und mehr der Strafe als dem Gebot der Pflicht. Eben darum sind auch einige der Ansicht, die Gesetzgeber müßten zwar durch Berufung auf den Wert des Guten zur Tugend ermahnen und antreiben, da dieses Motiv bei denen, die durch Gewöhnung schon zum Guten geneigt wären, seine Wirkung nicht verfehlen werde; allein den Ungehorsamen und den gemeineren Naturen müßten sie Züchtigungen und andere Strafen auferlegen und die Unheilbaren gänzlich beseitigen.“ (NE, S. 257)


Heutige Bewertung der antiken Sklaverei

Man kann nicht die heute z. B. in den Menschenrechten anerkannten Humanitätskriterien als Maßstab an die Antike anlegen. Das wäre abstraktes Denken im schlechten Sinn. Erst die Stoa und dann das Christentum werten den Sklaven auf, was aber die frühen Kirchenväter nicht daran hinderte, selbst Sklaven für sich arbeiten zu lassen.
Friedrich Engels hat den Gedanken, dass eine über primitive Stufen hinausgehende Kultur nicht ohne ein Mehrprodukt möglich sei, geschichtsphilosophisch ausgeweitet und die antike Sklaverei als notwendige Bedingung der Moderne gerechtfertigt.
„Erst die Sklaverei machte die Teilung der Arbeit zwischen Ackerbau und Industrie auf größerem Maßstab möglich, und damit die Blüte der alten Welt, das Griechentum. Ohne Sklaverei kein griechischer Staat, keine griechische Kunst und Wissenschaft; ohne Sklaverei kein Römerreich. Ohne die Grundlage des Griechentums und des Römerreichs aber auch kein modernes Europa. Wir sollten nie vergessen, daß unsere ganze ökonomische, politische und intellektuelle Entwicklung einen Zustand zur Voraussetzung hat, in dem die Sklaverei ebenso notwendig wie allgemein anerkannt war. In diesem Sinne sind wir berechtigt zu sagen: Ohne antike Sklaverei kein moderner Sozialismus.“ (Engels: Anti-Dühring, MEW 20, S. 168)
Die Registrierung einer faktischen Entwicklung in der Geschichte der Menschheit muss aber noch nicht in deren Rechtfertigung umschlagen. Genauso wie es absurd ist, sich einen humaneren Verlauf der Geschichte zusammenzureimen, genauso wenig kann jemand sagen, nur so, wie es geschehen ist, musste die Geschichte sich entwickeln. Es steht uns an, mit einem rechtfertigenden Urteil zurückhaltend zu sein und auch die Folgen des faktischen Geschichtsverlaufs zu bedenken, die uns bis heute bestimmen. Das hat Walter Benjamin getan:
Was der historische Materialist „an Kulturgütern überblickt, das ist ihm samt und sonders von einer Abkunft, die er nicht ohne Grauen bedenken kann. Es dankt sein Dasein nicht nur der Mühe der großen Genien, die es  geschaffen haben, sondern auch der namenlosen Fron ihrer Zeitgenossen. Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es selbst nicht frei von Barbarei, so ist es auch der Prozeß der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den andern gefallen ist. Der historische Materialist rückt daher nach Maßgabe des Möglichen von ihr ab. Er betrachtet es als seine Aufgabe, die Geschichte gegen den Strich zu bürsten.“ (Benjamin: Begriff der Geschichte, S. 696 f./ in:  GS I, 2)

Es gibt keine Rechtfertigung der Sklaverei, wird sie versucht, dann verstößt ein solches Denken gegen die Prinzipien der eigenen Vernunft. Das gleiche gilt heute in Bezug auf die Lohnarbeit im Zeitalter der Automation, die sie erst recht obsolet macht.

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